Der Traum von der Erleuchtung kann schnell zum Alptraum werden.
In der Wissenschaft sucht man seit Menschengedenken nach der Weltformel. Die eine universelle Theorie, mit der sich all unser gesammeltes Wissen vom ganz Großen und ganz Kleinen unter einen Hut bringen lässt. Das ultimative Wissen. Kurz: 42. Doch bislang verlief diese Suche noch ergebnislos. Was immer wieder zu Frustrationserlebnissen und dem Ausweichen auf Behelfslösungen führt, zumeist indem man die fehlenden Puzzleteile einer übersinnlichen Macht in die Schuhe schiebt. Willkommen in der Welt der Religioten, wie sie der Philosoph Michael Schmidt-Salomon so gerne nennt.
Nun kommt in unserer aufgeklärten Neuzeit jedoch noch ein weiteres Phänomen hinzu, welches es in der Geschichte der Menschheit so noch niemals gegeben hat: nahezu unbeschränkte Verfügbarkeit von Informationen. Zumindest in den freiheitlich-demokratisch orientierten Teilen der Welt, umgangssprachlich gerne als „der Westen“ zusammengefasst, steht so ziemlich jedem einzelnen Menschen der Zugang zu so ziemlich allem zur Verfügung, was die Spezies des Homo sapiens an Wissen bislang zusammengetragen hat. Und dieser Bestand an Informationen verdoppelt sich nach letzten Einschätzungen derzeit jedes Jahr. Schon allein dieses Wissen erinnert schnell an den Ausgang der berühmten Legende von Sissa ibn Dahir, der mit einem Schachbrett den indischen Kaiser ziemlich in Bedrängnis gebracht haben soll.
Es ist kein Geheimnis, dass Menschen schon immer mit der Betrachtung von solch übermächtiger Entwicklung unterschiedlich umgehen. Die einen sehen darin ein Werkzeug zum Erschaffen von Ruhm, Ehre und vor allem Reichtum. Die anderen betrachten es als Hokuspokus und erstarren in Angst vor dem Unbekannten. Was der erstgenannten Gruppe am Ende Tür und Tor zum Gebrauch – und ja, auch zum Missbrauch – des vorhandenen Wissens öffnet. Ein Dilemma, in dem wir heute angekommen sind und das sich bei jedem einzelnen Blick in die alltäglichen Nachrichten nur allzu gut offenbart.
Doch wo vollzieht sich die Grenze zwischen den beiden Gruppen? Handelt es sich wirklich um eine harte, klar sichtbare Abgrenzung? Oder ist der Übergang fließend? Wann gehört man zu der Sorte Mensch, die nach Vogel-Strauß-Manier den Kopf in den Sand steckt (was im Übrigen ein unsinniger Mythos ist) und wann darf man sich noch guten Gewissens zu den aufgeklärten Wissensnutzern der Moderne zählen? Wie geht man mit all dem Wissen um, ohne zu einem digitalen Hypochonder zu werden?
Mit solchen basisphilosophischen Fragen schlug ich mich gestern Abend herum, als ich mir selbst einmal mehr die Frage stellte, ob ich denn gerade beginne, vor meinem inneren Auge weiße Mäuse zu sehen, oder ob sich vielleicht doch mein Misstrauen gegenüber der Ehrlichkeit kapitalistisch erfolgreicher Tech-Giganten und den Fähigkeiten verbraucherseitig geschaffener Kontrollinstanzen als berechtigt herausstellen sollte.
Was gab den Anlass? Bei einem Familienbesuch Anfang des Monats erfüllte sich ein altbekanntes Klischee: Die Unterhaltung von uns langsam alt werdenden Herren begann irgendwann aufs Thema Gesundheit einzuschwenken. Von genetisch guter Veranlagung in der Kauleiste hin zum regelmäßigen Erhalt einer Postkarte des Zahnarztes zu Weihnachten an den umsatzstärksten Kunden. Akzeptanz von Plastikmüll versus Verrenken des Handgelenks beim Einsatz von Zahnseide. Und alle möglichen anderen Lifehacks, wie man das Austauschen von Ratschlägen heute nennt.
Die technische Revolution hat jedoch auch im Badezimmer längst Einzug gehalten. Hätte, hätte, Fahrradkette ich in meinen Jugendtagen schon eine elektrische iO10pro von Oral B besessen, hätte ich James Bonds Widersacher in Moonraker mit ganz anderen Augen gesehen. Doch der Gedanke an ein ab und zu mit in die Spülmaschine zu legendes Edelstahlgebiss lässt ans Ultraschallbad für die Brillenreinigung beim Optiker denken. Ans Waschbecken des beißerbewussten Zeitgenossen gehört selbstverständlich auch noch eine hochfrequente Sonicare DiamondClean 900 aus dem Hause Philips. Sich mit solchen Meisterleistungen der Ingenieurskunst in den gekachelten Räumlichkeiten auszustatten, sollte eigentlich bereits ausreichen, um Zahnarztbesuche auf Ewigkeit überflüssig zu machen. Leider ist es mit dem ganzen Krimskrams genauso, wie mit dem Fremdsprachen-Lehrbuch: Kaufen und unters Kopfkissen legen alleine nutzt nichts. Man muss das Zeug auch nutzen. Und hätte ich meine ganz banale, analoge, Discounter-billig-Zahnbürste in den rebellischen Teenagertagen gelegentlich einfach mal zum Einsatz gebracht, hätte das den Werdegang der natürlichen Ausstattung meiner Mundhöhle sicherlich auch nachhaltig positiv beeinflusst.
Beim eifrigen Erfahrungsaustausch über die Herausforderungen der täglichen Zahnpflege fiel jedoch auch eine Empfehlung, die mich durchaus neugierig machte. Während ich die Ultraschallreinigung von Philips schon kannte, war mir bis zu diesem Tag die akkubetriebene Munddusche mit dem vielversprechenden Namen „Power Flosser“ noch unbekannt. Ich nahm mir vor, gelegentlich mal danach zu recherchieren, gebe nur zu, dass ich das Thema längst wieder vergessen hatte, als ich am späten Abend irgendwann zuhause ankam. Nicht so allerdings mein Gesprächspartner, der mir einfach über WhatsApp einen Screenshot der Verkaufsseite des von ihm genutzten Gerätes aus dem Angebot eines weltbekannten Online-Universal-Händlers schickte. Der Screenshot kam am etwas späteren Abend, ich bedankte mich mit einer kurzen Antwort, dass solch ein Gerät mir bestimmt bei der Massage des Zahnfleische meiner Backenzähne helfen könne, nahm mir vor, am Folgetag selbst einmal die Website des Ladens mit dem A aufzurufen… und vergaß die Munddusche glatt erneut. Irgendwie ist der Ablenkungsfaktor in unserer heutigen Zeit einfach zu groß. Die tägliche Impressionsflut fordert die grauen Zellen zu sehr. Und vielleicht werde ich auch einfach langsam alt; am späteren Abend greifen die Zahnrädchen selbst bei einer Nachteule wie mir nicht mehr ganz so verlustfrei ineinander.
Doch das Internet vergisst nichts! Und genau das erschreckt mich und animierte mich zu den eingangs erwähnten Gedankengängen. Es gab mal Zeiten, da war die Facebook-App werbefrei, doch daran können sich vermutlich nur noch die Ältesten unter uns erinnern. Inzwischen bin ich es gewohnt, fast mehr Angebote für Tee und Büromöbel in den Feed eingeblendet zu bekommen als Posts meiner Freunde. Immerhin passen diese Dinge zu meinen Recherchen auf Google, auch wenn ich mich immer noch wundere, wie denn meine im Firefox aufgerufene Facebookseite die Infos aus dem Chrome-Browser holt. Okay, Technik halt; das muss ein Buchhalter nicht durchblicken.
Aber ist es wirklich nur reiner Zufall, dass ich jetzt auf einmal haufenweise Werbeeinblendungen von „emmi-dent“, „Zahnheld“ und „Zima Dental“ in die Chronik gespielt bekomme? Da sind sie wieder, die Momente, in denen ich Gefahr laufe, von außenstehenden Dritten mit Flacherdlern und Mondlandungs-Zweiflern in einen Topf gesteckt zu werden. Auch so ein Problem der heutigen Zeit: das Denken in Extremen. Dafür oder dagegen. Verstehen oder Abstreiten. Aber hinterfragen? Zweifeln? Welch unzeitgemäßes Verhalten ist das denn? Nein, mit Unwissenheit leben geht ja gar nicht.
„Du hast die Wahl. Du kannst dir Sorgen machen, bis du davon tot umfällst. Oder du kannst es vorziehen, das bisschen Ungewissheit zu genießen.“
Norman Kingsley Meiler, US-amerikanischer Schriftsteller, Regisseur und Journalist (1923-2007)
Also tue ich das, was ein Mensch der heutigen Zeit halt eben so tut: ich konfrontiere ChatGPT mit meinem Problem. Früher war der Friseur oder Kneipenwirt die Anlaufstelle zum Ausschütten aller Herzensnöte, heute zieht man die KI zu Rate. Zuerst verrät mir die Intelligenz, dass sie wirklich nur künstlich ist, indem sie mir eine Information zukommen lässt, die inzwischen eigentlich ein jeder Mensch mit Internetzugang bereits wissen sollte: Sowohl WhatsApp als auch Facebook gehören zum Meta-Konzern von Marc Zuckerberg. Ich muss allerdings gestehen, dass ich über die Jahreszahl 2014 überrascht war. Liegt die unter furorischem Medienspektakel erfolgte Fusion echt schon wieder über ein Jahrzehnt in der Vergangenheit? Mensch, ich werde alt. Ach ja, daher ja das Thema mit den Zähnen, ich erinnere mich.
Es gibt einen Datenaustausch zwischen den Systemen, aber keine automatische Weitergabe der Chat-Inhalte, da in WhatsApp Ende-zu-Ende-verschlüsselt kommuniziert wird, so lässt es mich die KI weiter wissen. In der EU gilt die DSGVO, an deren Einhaltung sich Meta nach Kritik von Datenschützern auch zu halten versucht. „WhatsApp betont in Europa regelmäßig, dass Daten nicht zur direkten Profilbildung für Facebook-Werbung verwendet würden. Dennoch gibt es Überschneidungen in Infrastruktur und Account-Management.“ ist ein Satz, den ich original aus der ChatGPT-Recherche rauskopiere und einfach mal so stehen lasse. Ich betone auch täglich, dass es mein Plan ist, ein paar Kilo abzunehmen und weniger Alkohol zu trinken.
Wer überwacht den ganzen Spaß denn eigentlich, will ich von dem ChatBot als nächstes wissen. Die irische DPC aufgrund des Firmensitzes von Meta, der europäische Ausschuss EDSA sowie die zahlreichen im Gemeinschaftsgebiet verteilten nationalen Behörden, gibt mir die KI als Antwort aus. Na prima, ein bunter Haufen untereinander um Zuständigkeit streitender Organisationen, von denen vermutlich keine einzige den Gesamtüberblick inne hat. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge kopiere ich auch hier einen Absatz der mir gegebenen Antwort im Original ein: „Praktische Grenzen: Behörden haben oft weniger technisches Detailwissen als Meta selbst, was die Kontrolle erschwert. Viele Maßnahmen beruhen darauf, dass Meta offenlegt, was technisch geschieht – hier besteht naturgemäß ein Informationsgefälle.“
In meinen Kindheitstagen habe ich gerne ab und zu in einem der Kinderlexika herumgeschmökert. Lexikons? Lexikonne? Sollte ich ChatGPT fragen, was der korrekte Plural ist? So richtig aus Papier waren die damals. Gibt es sowas heute eigentlich noch, wo man sämtliche Brockhaus-Bände problemlos auf einem USB-Stick unterbringen kann? Wobei „Offline“-Medien wie SD-Cards inzwischen vermutlich auch schon am Aussterben sind. Aber ich schweife ab. Obwohl genau das ja der Punkt ist, auf den ich hinaus will. In dem Lexikon blätterte ich gerne von einem Suchbegriff zum nächsten, weil ich die Hintergründe zu den Erläuterungen wissen wollte, die ich gerade gelesen hatte. Genau so geht es mir ab und zu beim Plaudern mit ChatGPT. Ich habe so nun eine Menge über algorithmische Verknüpfungen, Lookalike-Modelle und psychologische Wirkungen von 1:1-Kausalzusammenhängen gelernt. Doch am Ende des Tages hat das alles nicht wirklich dazu beigetragen, mein flaues Bauchgefühl zu beseitigen.
Vereinfacht ausgedrückt geht der Informationsweg also offensichtlich so: WhatsApp auf dem Gerät meines Gesprächspartners hat sich durch dortiges Akzeptieren der Nutzungsbestimmungen die Erlaubnis geholt, unter anderem den Suchverlauf des Browsers zu tracken, und meldet diese Suchanfragen an den Meta-Server, um meinem Gesprächspartner passende Werbung in den Facebook-Feed zu spülen. Dass besagter Gesprächspartner und ich sowohl auf WhatsApp als auch auf Facebook miteinander verbunden sind, weiß Meta ja ohnehin. Welchen Inhalt ein Screenshot hat, den ein WhatsApp-Nutzer dem anderen schickt, sollte der Zuckerberg-Konzern nicht auslesen, sofern er sich an die gesetzlichen Vorgaben hält. Aber aufgrund der Tatsache des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Suche im Browser und Versenden des Screenshots einfach mal auf Verdacht die Browserdaten des einen Users für Werbeeinblendungen des anderen Users zu benutzen, bringt der Algorithmus durchaus auch ganz ohne Verstoß gegen irgendwelche Vorgaben der DSGVO zustande. Dass ich dann verdutzt auf diese Einblendung drauf geklickt habe, genügt der automatisierten Werbemaschinerie als Indiz, dass hier wohl ein Treffer gelandet wurde. Und schon bekomme ich massenhaft mehr Werbung in dieser Richtung eingespielt.
Wenn wir heute pauschal von „KI“ reden, meinen wir eigentlich nicht wirklich „künstliche Intelligenz“, sondern nur den Teilbereich „maschinelles Lernen“ daraus. ChatGPT & Co. gibt uns nicht aus einem Wissensstand heraus eine Antwort, sondern auf Basis der Aneinanderreihung plausibel erscheinender Wortfolgen. Und das alles in rasend schneller Geschwindigkeit. Wie komme ich denn nur zu der Unterstellung, dass diese KI so etwas nur in meinem Auftrag zu meinen Fragen tun könnte? Solch eine Aufgabenstellung kann das System doch genauso gut auch von einem Meta-Entwickler gestellt bekommen. Würden die nie tun, ich weiß. Wäre ja gegen das Gesetz. Und auf der Seite der Gesetzeshüter sitzen ja hochbezahlte, top motivierte und niemals überlastete Spezialisten, die schon auf uns aufpassen.
Schon mal was von „Anthropic“ gehört? Ein Unternehmen, das von OpenAI-Aussteigern gegründet wurde, um mit „Claude“ ein Konkurrenzprodukt zu ihrer ersten Schöpfung „ChatGPT“ zu erschaffen. Warum der Ausstieg und Gründung eines eigenen Unternehmens? Nun, man wolle sich auf einen verantwortungsvolleren Umgang mit KI konzentrieren. Ähm, verantwortungsvoller als wer? So richtig vertrauensaufbauend wird es dann, wenn man dem Geschäftsführer dieser Softwareschmiede Anthropic, Dario Amodei, zuhört: „Wenn ein generatives KI-System etwas tut, wie etwa ein Finanzdokument zusammenzufassen, haben wir auf einer spezifischen oder präzisen Ebene keine Ahnung, warum es die Entscheidungen trifft, die es trifft – warum es bestimmte Wörter anderen vorzieht oder warum es gelegentlich einen Fehler macht, obwohl es normalerweise genau ist.“
Vor 230 Jahren schrieb Johann Wolfgang von Goethe seine berühmte Ballade vom Zauberlehrling. Hoffen wir mal drauf, dass der alte Hexenmeister irgendwann um die Ecke kommt und der Schöpfung Einhalt gebietet. Bis dahin heißt es wohl, gut zu überlegen, was man einer Maschine anvertraut und was man besser nur mündlich weitergibt. Ach, nee, Alexa und Siri hören ja auch noch mit.
Ich gehe jetzt mal Zähne putzen. Womit auch immer.
Clark,
im September 2025
- Schlagwörter:
- Facebook/Meta
- KI
- Körperplege
- Lauschangriff
- Skepsis
- Wissensflut
Bildnachweis > ahten consult GmbH
Toller Beitrag, wenn auch erschreckend! Das Keyword „Lauschangriff“ ist hier auch sehr gut gewählt. Meine Mutter staunte nicht schlecht heute, als ihr Hörgerättechniker die Frage stellte, ob sie denn ihre Hörgeräte mindestens 8 Stunden am Tag nutzen würde. Nach ihrer bejahenden Antwort warf er nur einen Blick auf sein Bildschirm und bestätigte: „Stimmt, Sie nutzen sie im Durchschnitt 8h12 pro Tag“. Na dann, Mutter wird durch die Ohren getrackt, das ist echt krass 😳😳